Foto: At the end of the road

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„Yes, you are more than welcome to come. You are lucky, it is the last day of marking the calves.“ Als ich Kenneth Pittja anrufe, bin ich 2000 Kilometer mit dem Bulli in den Norden gereist und gerade in Luleå, Norrbotton am Bottnischen Meerbusen angekommen. Kenneth ist Rentierzüchter in der Gemeinde Jokkmokk. Etwas nördlicher gelegen. Ich bin auf der Suche nach Protagonisten für den nächsten Film und habe Kenneth nach langer Recherche gefunden. Nun sind wir zum Interview verabredet. Dass es kein richtiges Interview geben wird, stellt sich erst später heraus.

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Erst einmal mache ich mich auf nach Laponia, wie die Samen es nennen. Einen Haken gibt es noch: „It is far away. I am close to the border of Norway. We meet at the end of the road.“
Auf dem Weg wird der Polarkreis gekreuzt. Ein herrlich unspektakulärer Parkplatz im Wald ist das, mehr nicht. Das Ziel „End of the road“ ist recht einfach zu finden, ab Porjus gibt es nur noch eine Straße. Sie führt entlang des riesigen, inselreichen Sees Akkajaure. Ein kleines Meer auf den ersten Blick. Die Samí, wie sie sich selbst nennen, erzählen, dass es früher mehrere große Seen waren. Heute werden sie gestaut und vereinten sich zu einem See. – Die Mine im nahegelegnen Kiruna ist die größte Erzmine der Welt, mit dem reinsten Erz. Die Minen im Nordwesten Schwedens fressen Strom und Vattenfall liefert ihn. Daher die vielen Stauseen in der Gegend. Die Wasserfälle, die früher diese Gegend bestimmten, sind verschwunden. – Dass es keine weiteren Straßen gibt, ist also eine politische Entscheidung der Samí. Neuen Straßen folgt neue Besiedlung und die bedeutet meist unterschiedliche Interessen. Wer hier lebt, möchte nicht unbedingt weitere Veränderungen. Die bisherigen waren meist nicht positiv für die Samí, die von der Natur leben, hier jagen, fischen und ihre Tiere züchten. Trotzdem wird intensiv nach neuem Minengebiet in der Gegend gesucht.
Die nächsten Stunden Fahrt führen entlang des Ufers in den wilden Norden. Die Kulisse könnte nicht kontrastreicher zum monoton daliegendem schwedischen Flachland sein:
Gegenüber am Westufer liegt der Sarek Nationalpark. Europas letzter Nationalpark ohne künstlich angelegte Wege. Im Sarek wachsen die Berge schnell zu Wasserfall behangenen Massiven empor. In den Höhen karg, schneebedeckt und an den Füßen dicht und wild bewaldet.
Der Herbst war schon da. Die Bäume sind leer gefegt, es ist kalt, windig, die Luft feucht, frisch. Irgendwann kommt ein Gletscher um die Ecke, der Akkà streckt uns seine Eiszunge entgegen. „Königin von Lappland“ wird der Berg genannt. Morgen werden wir daneben mit dem Helikopter landen, aber das wissen wir jetzt noch nicht. „The end of the road“ lässt zunächst noch auf sich warten. Ich höre auf, die Vögel und Füchse zu zählen, die vor das Auto huschen.

Angekommen, treffen wir Kenneth auf einen Parkplatz im bereits dunklen Ritsem. Ich sehe nicht wo ich bin, weiß aber, hier hört die letzte schwedische Straße auf. „Welcome to my office!“ begrüßt er uns. Ein schöneres Büro gibt es wohl nicht, antworte ich. – Die Samen sind ein freies Volk, das sich über vier Länder, in eigenen Parlamenten und Kommunen organisiert und lebt. Lappland erstreckt sich über Norwegen, Schweden, Finnland und in Teilen von Russland.  Die Samí widmen ihren Lebensstil dem Wanderzyklus der Tiere: sie sind an die Regeln der Natur gebunden und kennen keine Landesgrenzen. Auch heute noch richtet sich das Familienleben nach dem Zug der Rentiere und den acht Jahreszeiten, wie sie die Samí über das Jahr zählen.
„Reindeer herder is no job. It‘s a lifestyle!“ erklärt Kenneth. Ich treffe einen Menschen, der mit einem verschmitzten Lächeln meine unwissenden Fragen gar nicht erst beantworten will. Er will mir zeigen, was ich wissen möchte und nicht erzählen. – Sympathisch. Er lädt mich ein, morgen beim letzten Tag des Kälbermarkieren, dem Renskiljning, dabei zu sein.

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Kurz nach Sonnenaufgang fliegen wir mit dem Helikopter über den Akkajaure. Es gibt keine Straßen, ein Boot braucht zu lange, der Weg den Berg hoch ist lang, daher nehmen wir den Helikopter. Es dauert etwas bis alle mitreisenden Rentierhirten da sind und der Heli voll besetzt ist. Die meisten Hirten sind bereits drüben auf dem Berg. Pavva, 24, kommt auch mit, unverkennbar einer von Kenneths Söhnen. Ein junger, stolzer Samí.

Der Helikopter hebt ab. Ein Land mit tausend Inseln liegt unter uns. Am anderen Ufer erheben sich majestätisch die Berge, die nach Norwegen führen. Oben angekommen geht es schnurstracks zum Coral, zu der eingezäunten Herde.

Nicht nur der Anblick von ca. 2000 galoppierenden Rentieren, macht Eindruck, noch  imposanter ist das klickende Geräusch ihrer 8000 Hufe. – Damit sich die Tiere in den dunklen Wintertagen wahrnehmen, klicken die Hufe. Heute rennen sie schnell und blökend, ununterbrochen getrieben gegen den Uhrzeigersinn  im Kreis. Was ist, wenn sie mal anders herum laufen, frage ich Pavva. Das kommt nicht vor und wenn, dann wäre es ein sehr schlechtes Omen, antwortet er.


In der Herde stehen die „Cowboys des Nordens“ und schwingen ihre Lassos. Männer wie Frauen. Samís scheinen auf sehr natürliche Art und Weise gleichberichtigt zu sein. Auch in Kenneths Familie sieht es danach aus, dass die Tochter Ela-Laura, 18, hauptsächlich die Nachfolge antreten wird.
Die Werfer spähen nach Kälbern. Zielgenau werfen sie die Lassos und treffen nicht allzu oft. Viele ernten laute Sprüche für ihre „Fangkünste“ oder belächeln sich selbst. Kenneth schmunzelt über die Wurfkünste mancher Nachbarn. „It is almost funny how bad some of them are“ sagt er. Er selbst wird „Goldene Hand“ genannt, weil er das Lasso so gut werfen und die großen Bullen fürs Kastrieren einfangen kann. Daher wird er oft gebeten, auch bei den Nachbarkommunen zu helfen. So wie heute. Sein Sohn Pavva steht ihm in nichts nach. Aber wenn Vater und Sohn gemeinsam werfen, ist der Jüngere immer etwas eingenommen von seinem Respekt gegenüber dem Können des Vaters.
Trotz der Witze und des Humors sind alle konzentriert bei der Sache, es gibt viel zu tun im Coral an Renskiljning. Die Arbeit ist wichtig, es bleibt nicht mehr viel Zeit, bevor es kalt wird.
Ist ein Kalb gefangen, wird der Besitzer gerufen, der es selbst markiert. Die Kälber werden immer in der Gemeinschaft eingefangen. Ohne die Zusammenarbeit wäre dieses aufwendige Leben und das Züchten der Tiere nicht zu bewältigen. Die Herden bilden sich nicht nach ihren Besitzern. Daher treibt jede Gemeinde über den Sommer die Tiere immer wieder zusammen. Im Coral werden den im Frühjahr neu geborenen Tieren mit scharfen Messern Markierungen ins Ohr geschlitzt. Jeder Besitzer hat eine eigene Markierung. Wo ich an den Ohren gar nichts erkenne, kann jeder Sami auf hundert Meter Entfernung sagen, wem welches Tier gehört. Dieses Jahr haben sie nicht alle Tiere eingefangen. Im späteren Herbst muss noch Mal nachgebessert werden…

Ein paar wenige zu kleine und zu spät geborene sowie kranke Kälber werden geschlachtet. Mit schnellen und gekonnten Handgriffen wird das Jungtier getötet. Man merkt, wie dem Besitzer auch das Herz blutet, nachdem er das Messer in die Brust gestochen hat und wartet bis der kleine Körper aufhört zu zucken. Er tröstet das Tier beim wegdämmern. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Muttertier besser über den Winter kommt ist größer und die Hoffnung, dass es im nächsten Frühjahr ein kräftiges Kalb wirft, ist auch da.


Neben dem ganzen Treiben herrscht Aufbruchstimmung. Heute ist der letzte Tag hier oben, die Gemeinschaft zieht ab, alles wird mit dem Helikopter ins Tal und an die Ufer des Sees abtransportiert: die Enduros, die Zelte, Zäune. Dazu kläffen kleine Herdenhunde, die von den Fremden und den Luftgefährten genervt sind.

Es ist schon tiefer Herbst hier oben, die Jahreszeit der Antriebskraft, während der Rest von Europa noch im Spätsommer verweilt. Die Brunftzeit setzt langsam ein. Dann können Bullen nicht mehr geschlachtet werden, da ihr hormongetränktes Fleisch ungenießbar wird. Daher werden einige, die später im Jahr geschlachtet werden, nun ihrer Männlichkeit beraubt. Sind alle Kälber markiert, wird die Herde geteilt und in kleinere Abzäunungen gebracht. Das Kastrieren beginnt. Der Besitzer sucht sich männliche Tiere aus seinem Besitz. Es wird abgewägt und sich beraten, bis das Tier mit dem Lasso aus der Gruppe gefangen wird. Mit dem Geweih wird der Bulle auf den Rücken gedreht. Der Geruch des Atems verrät, ob ein Bulle schon in der Brunft ist. Wenn nicht, wird die Zange angesetzt und… Auch ihr Horn wird „geerntet“ und später entstehen daraus kunstvolle Schnitzereien für Schmuck und Messergriffe. Etwas verwirrt torkeln die Bullen danach zurück in die Gruppe, sie werden langsam begreifen, dass sie nun nichts mehr in ihrem Harem zu sagen haben.

Einige wenige Tiere werden wiederum aussortiert, um geschlachtet zu werden. Von 2000 Tieren sind es heute nur circa sieben. Eine sehr nachhaltige Quote, eher für den Eigenbedarf. Man lebt ein weites Stück von der Natur. „Money makes money but nothing more“ ist Kenneths Meinung dazu. Geld braucht er nur, um davon ein wenig zu leben. Den Rest bietet die Natur. Natürlich verkauft er auch Rentierfleisch, das nicht günstig ist, weil man die sensiblen Tiere eben nicht in Gefangenschaft halten kann und die Haltung aufwendig ist. Man muss mit den Tieren im Winter in die tieferen Lagen ziehen. Davon gibt es allerdings zunehmend Ausnahmen. Die acht Jahreszeiten verschieben sich, der Klimawandel bringt ein empfindliches System durcheinander. Die wärmer werdenden Winter bringen mehr Schnee, wobei die obere Schicht schnell friert. Mit ihrer Schnauze kommen die Rentiere dann durch die Eisschicht nicht mehr an ihr Futter. Wenn das so ist, bleibt Kenneth auch im harten Winter bei den Tieren und lässt sie nicht ziehen. Er hält sie im Coral und füttert sie mit teurem Futter zu. Für die Familie bedeutet das, den Vater  nicht bei sich im Winterquartier, im weit entfernten Jokkmokk zu haben. Wie es diesen Winter wird, wird sich noch herausstellen.


Nach dem Kastrieren werden die Herden wieder in die der Berge entlassen. Langsam traben sie in die Weiten des Tales und verteilen sich so weit das Auge gucken kann.

Magnus, ein Bekannter von Kenneth, schenkte mir das Herz und Fleisch eines notgeschlachteten Kalbes. Abends im Camp auf dem Trangia gebraten, ist es das zarteste und dezent aromatischste Fleisch, das ich je gegessen habe. Dankbarkeit dafür und für diesen wunderbaren,  zufrieden machenden Tag macht sich in mir breit. Ich bin froh, dass wir kein Interview hatten, sondern ein Ereignis beiwohnen durfte, das ich nie vergessen werde.


Vielen Dank an Kenneth für diese einmalige Einladung, an Lise Tapio-Pittja, Pavva Pittja und an die Gemeinde Sriges Sameby und deren Vorsitzenden Jakob Nygård für die Erlaubnis zur Teilnahme. Einen Besuch im Sarek oder im nahe gelegenem Stora Sjöfallet Nationalpark kann man gut vor Ort über das Naturum Lapnonia organisieren: http://www.laponia.nu